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Über den Dächern der Bochumer City explodierte die Silvesternacht in einem Schauer aus Violett, Grün und Goldregen.
Nach zwei Jahren Abstinenz und dem Frühling bereits in den Startlöchern, fühlten viele sich zu Feuerwerkern und Pyrotechnikerinnen berufen.
Statt Nudeln und Klopapier wurden vorsichtshalber Schinken von Chinaböllern gehortet, Gefahrgutklasse 1.4S ohne Verkaufsbeschränkung.

Ole lehnte am Geländer des winzigen Balkons im ersten Stock, der kaum mehr als eine Türnische mit Brüstung war und sah unten in der Gasse eine Obdachlose, sie schien es eilig zu haben; im nächsten Augenblick stand ihr abgewetzter Mantel in Flammen.

In seinem Schreck hörte er nichts, sah kurz nicht sie, sondern den gleißenden Feuerball der Hindenburg vor Augen, von der bloß Schwarzweiß-Aufnahmen überlebt hatten, mit welcher Farbe hatte sie gebrannt? Schon war die Flammenfrau außer Sicht.

Er lehnte sich vor, soweit die Brüstung es zuließ, streckte die Zehen durch, reckte weiter den Hals, jeder Zentimeter zählte, bis sein Blick kippte, die Welt ins Taumeln geriet und er mit ausgestreckten Armen um sein Gleichgewicht ruderte.

Ihm wurde heiß und kalt, wie bei der simulierten Grubenfahrt im Bergbaumuseum, bloß potenziert durch die Schneebowle, er stürzte ab.
Doch der Boden rückte nicht näher, er hing in der Luft - schwebte.

Eine Hand hatte ihn am Gürtel seiner Jeans gepackt und mit einem Ruck in Richtung Zimmer landete er auf seinem Hintern. »¿Estás loco?«
Ole wischte über sein Gesicht, sah den entgeisterten Ausdruck seiner Kommilitonin und musste kichern.

Dalia stieß ihn zurück, als er versuchte sich aufzuraffen. »So nicht, amigo mío. Bleib wo du bist. Das Jahr ist noch keine Stunde alt und meine guten Vorsätze sind beinahe zum Fenster raus. No stiffs until after Día de Reyes.«

Er starrte vor sich hin und schien sie kaum wahrzunehmen, an der Bowle konnte es nicht liegen, die hatte sie anhand eines alten Familienrezepts improvisiert und nach drei Bechern war noch niemand über Bord gegangen.

Zur Sicherheit schloss sie die Balkontür, jedoch nicht ohne selbst einen Blick hinaus zu werfen und hinunter.
Ole sprang auf zur Tür.

»Wo willst du hin?«, rief sie ihm nach und hetzte die Treppe hinunter. »Burro!«
Die Luft draußen war kühl und roch nach Schwarzpulver, aus der Nachbarschaft waren gedämpfte Stimmen, Heuler und Kanonenschläge zu hören.

Beinahe wäre sie im Halbdunkeln über ihn gestolpert, er hockte am Boden und scharrte mit dem Stiel einer abgebrannten Rakete an einer verkohlten Stelle auf dem Pflaster. »Hier hat sie gestanden. Ich habs mir nicht eingebildet.«

Vom Eingang der Gasse war heiseres Gelächter zu hören. Zwei Halbwüchsige blödelten herum, der eine rannte im Kreis und wedelte mit den Händen über dem Kopf, wie um einen unsichtbaren Insektenschwarm zu vertreiben, während der andere mit seinem Smartphone filmte.

“Hey”, rief Ole und deutete auf die beiden, “Ich hab alles gesehen, ich weiß was ihr treibt!”
Der Influencer plusterte sich auf und zeigte ihm den Mittelfinger, sein Kumpel machte mit der Kamera einen Schwenk auf Ole. »Verzieh dich, Boomer.«

Ole setzte zu einem Sprint an. Die beiden erschraken, trennten sich, als hätten sie sich abgesprochen und preschten zwischen den Häuserblöcken in entgegengesetzte Richtungen davon.

Nach der dritten Abzweigung gab er atemlos die Verfolgung auf, sie hatten ihn abgehängt.
Ein beißender Rauchgeruch wehte ihm zwischen den Häusern entgegen, wie von schmorendem Plastik, und er folgte dem Gestank einmal um den Block.

Er stieß auf einen ausgebrannten Mülleimer, das Metall war noch heiß. Im geschwärzten Inneren erkannte er Pommesschalen, Becher und Zigarettenschachteln zwischen den Glutnestern eines Kleiderknäuels, den Überresten eines Mantels vielleicht.

»Da bist du.« Dalia verschränkte die Arme und zitterte in ihrem schulterfreien Top, ihre Jacke hatte sie in seiner Wohnung vergessen. »Auf Schatzsuche, ja?«
Darüber mussten beide lachen.
»Fehlanzeige.« Er wischte sich die Hände an der Jeans ab und begleitete sie zurück.

Ihr Nachname Rodríguez wurde im Pott halbwegs sauber ausgesprochen, weil er die einen an den Kultregisseur erinnerte, andere an Fußballer oder Schauspielerinnen und wieder andere fälschlicherweise an den Bassisten der Ärzte.

Sie studierte Medizin, er Archäologie, wie sie später bei einem eiskalten Fiege Bernstein herausfanden. Sie hatten sich nur kennengelernt, weil sie 2019 im selben Informatikkurs saßen, am heißesten Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnung.

Ein ♡ Amiga Aufkleber auf seinem Notebook hatte als Eisbrecher fungiert. Ihre Hypothese: Ein Nerd mit Freundin würde, trotz ihres knappen Tops bei der Hitze, kaum versuchen sie anzugraben.

Damit hatte sie recht behalten, wenn auch aus anderen Gründen.
Beim Bier war sie von Archäologie zu den Azteken abgebogen und untermalte Opferriten mit anatomischen Details. Die Frage nach ihrer Herkunft beantwortete sie der Einfachheit halber mit Mexiko.

Es war ein Ausloten des Gegenübers, ein Test der Vorstellungskraft, eine Frage der Weltanschauung und letztlich ein Abwägen von Charakter.
Außer ihrem Humor hatten sie wenig gemeinsam, darunter lag ein leises Gefühl von Seelenverwandtschaft.

Er hatte sich in seiner Gore-Phase durch sämtliche Splatterfilme auf DVD gearbeitet. Sie brauchte schon aufgrund ihres Anatomiekurses einen starken Magen. Es war ein blutiges Spiel zwischen ihnen, sich in grotesken Einzelheiten zu übertreffen.

Lars Hannig

Auf dem Weg zurück zur Wohnung dachte Ole an den Azteken-Häuptling, der zur Heirat in eine Herrscherfamilie ein Kapuzengewand aus Haut trug. Zu Ehren des Fruchtbarkeitsgotts und zum Entsetzen des Brautvaters, der darin das Gesicht seiner Tochter wiedererkannte.

In der Ferne zerbrachen nur noch vereinzelte Raketen lautlos wie Seifenblasen in schillerndem Sternenregen. Er wusste nicht, wie lange sie unterwegs waren, aber er musste sich mehrmals neu orientieren. Im Dunkeln sah alles gleich aus und anders.

»Gibbet nich«, grummelten sogar alteingesessene Bochumer, wenn man sie nach der sogenannten Mottengasse fragte.
Beleuchtet von einer uralten Straßenlaterne, führte der Schleichweg zwischen zwei rußgrauen Wohnblöcken hindurch, geradewegs in einen beengten Hinterhof, in den die Ecke der Nummer 9 ragte.

Die schmale helle Neun behauptete sich zwischen den Nachbarhäusern wie eine von Pflastersteinen eingeklemmte Streichholzschachtel.
Die Hintertür führte zu einer Treppe und einem Flur, der auf halber Länge vor einer provisorisch hochgezogenen Wand endete, vor der sich alte Farbeimer stapelten.

Neben der Tür im ersten Stock stand »Truffel«, auf einem Streifen Tesafilm am Klingelschild. Ole kramte den gordischen Knoten hervor, an dem sein Schlüssel hing. Inzwischen waren sie beide ziemlich durchgefroren und schlossen die Wohnungstür erleichtert hinter sich.

Dalia stutzte. »Wo kommt die denn her?«
Zwischen schmutzigen Schuhabdrücken lag die Werbepostkarte einer Pizzeria. Eine Ecke war angesengt wie von glühenden Fingern. Nein, von einem Feuerzeug natürlich.
Auf der Rückseite standen die Worte, die Ole zu den beiden Typen gesagt hatte.

Was bisher geschah …
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